Laut dem deutschen Innenministerium haben bis Ende Juni 49 841 bereits in Griechenland anerkannte Flüchtlinge (meist aus Syrien, Afghanistan und dem Irak) in Deutschland Asyl beantragt, obwohl ein solcher Antrag bereits erfolgreich in Griechenland gestellt wurde[1].
Eine Rückführung von Asylbewerbern nach Griechenland findet in der Regel nicht statt, da deutsche Gerichte entsprechende Abschiebungen verbieten, weil die Asylbewerber dort angeblich unhaltbare Zustände vorfinden.
Nach Artikel 17 Absatz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 kann ein anderer Mitgliedstaat zwar die Verantwortung für einen Asylbewerber übernehmen, obwohl ein anderer Mitgliedsstaat verantwortlich ist, aber „bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist“. Dies missachtet die Bundesregierung in ihrem hier vorgenommenen Alleingang.
1.Wie bewertet die Kommission die eigenmächtige Aufnahme von Asylbewerbern aus anderen Mitgliedstaaten durch Deutschland im Hinblick auf die Dublin‑III-Verordnung?
2.Bewertet die Kommission die Zustände in Griechenland selbst als nicht hinnehmbar und als Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit – und wenn ja, welche Folgen hat das für Griechenland?
3.Inwiefern wird mit dem neuen Migrations- und Asylpaket diesen Entwicklungen Rechnung getragen?
[1] https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/ampel-regierung-gibt-nach-doppelte-asylantraege-werden-anerkannt-80869864.bild.html
Antwort von Ylva Johansson im Namen der Europäischen Kommission
6.1.2023
1. Die Dublin-III-Verordnung[1] findet nicht auf Anträge von Personen Anwendung, die internationalen Schutz genießen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union[2] darf ein Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz nicht nach der Asylverfahrensrichtlinie[3] als unzulässig ablehnen, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wenn der Antragsteller ernsthaft Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „Charta“) ausgesetzt zu werden.
2. Die Kommission arbeitet im Rahmen der Taskforce „Migrationsmanagement“[4] eng mit Griechenland zusammen, um die Aufnahmebedingungen im ganzen Land[5] so zu verbessern, dass sie den EU-Standards entsprechen. So wurden auf den Inseln neue Einrichtungen geschaffen, und dank effizienter Asylverfahren konnte der Rückstand bei der Antragsbearbeitung[6] verringert werden. Ferner wurden spezifische Aufnahmeeinrichtungen für unbegleitete Minderjährige[7] geschaffen und neue Projekte zur Integration anerkannter Flüchtlinge auf den Weg gebracht[8]. Die Kommission wird die Situation vor Ort weiterhin aufmerksam verfolgen.
3. Das Migrations‐ und Asylpaket umfasst einen neuen Vorschlag für eine Verordnung über Asyl‐ und Migrationsmanagement[9]. Danach wären die Mitgliedstaaten, die internationalen Schutz gewährt haben, verpflichtet, Begünstigte internationalen Schutzes, die in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt haben oder sich dort irregulär aufhalten, wieder aufzunehmen. Diese Verpflichtung würde den Mitgliedstaaten das erforderliche Rechtsinstrument an die Hand geben, um Überstellungen durchzusetzen, sofern in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, kein Verstoß gegen Artikel 4 der Charta vorliegt.
[1] Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31).
[2] Siehe verbundene Rechtssachen: Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim, C-297/17; Ibrahim, C-318/17; Sharqawi u. a., C-319/17; Magamadov, C-438/17; EU:C:2019:219.
[3] Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Neufassung) (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 60).
[4] https://home-affairs.ec.europa.eu/policies/migration-and-asylum/migration-management/task-force-migration-management_en
[5] Dank der Transfers auf das Festland und über 5000 Übernahmen durch andere Mitgliedstaaten, die aus EU-Mitteln unterstützt wurden, liegt die Zahl der Menschen, die in einem Flüchtlingslager auf einer griechischen Insel leben, derzeit bei rund 4000 (2019 waren es noch 42 000). In den Einrichtungen erhalten die Menschen u. a. eine Unterkunft, Zugang zu sanitären Einrichtungen und zur Gesundheitsversorgung; ferner erhalten alle Kinder Zugang zur Bildung.
[6] https://migration.gov.gr/en/statistika/. Die von den griechischen Behörden veröffentlichten Statistiken deuten darauf hin, dass der Rückstand bei Asylanträgen in erster und zweiter Instanz von September 2021 bis September 2022 um 42 % und von September 2020 bis September 2021 um 53 % zurückgegangen ist.
[7] In den vergangenen Jahren haben Gesetzesänderungen in Griechenland wie die Einrichtung des Sondersekretariats für den Schutz unbegleiteter Minderjähriger (Special Secretariat for the Protection of Unaccompanied Minors — SSPUAM) und die Umsiedlungsregelung dazu beigetragen, die Lage unbegleiteter Minderjähriger zu verbessern.
[8] Das Programm Helios ist das wichtigste Integrationsprogramm in Griechenland; https://migration.gov.gr/migration-policy/integration/draseis-koinonikis-entaxis-se-ethniko-epipedo/programma-helios/
[9] COM(2020) 610 final.