Am 2. April 2020 schlug die Kommission eine neue Verordnung zur Einführung eines befristeten europäischen Kreditprogramms zur Finanzierung von Kurzarbeit (SURE) vor.
Auf dieser Grundlage sollen die Mitgliedstaaten ein Darlehen bei der Kommission beantragen können, wenn sie mit den Kosten der staatlich finanzierten Kurzarbeit überfordert sind. Zur Finanzierung dieses Systems will die Kommission Anleihen am Kapitalmarkt aufkaufen.
Die Kommission stützt sich in ihrem Entwurf in Bezug auf die Kreditaufnahme auf Artikel 122 Absatz 1 AEUV. Gemäß dieser Rechtsgrundlage würde eine qualifizierte Mehrheit genügen.
Artikel 122 AEUV gestattet es dem Rat eigentlich nur, Maßnahmen zu beschließen, falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich auftreten. Dieser Absatz wurde nur ein einziges Mal angewendet, als es um die Erdölbevorratung durch die Mitgliedstaaten ging [1] .
Der EuGH hat im Pringle-Urteil dargestellt, dass „Art. 122 Abs. 1 AEUV keine geeignete Rechtsgrundlage für einen etwaigen finanziellen Beistand der Union für Mitgliedstaaten darstellt, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen […]“ [2] .
1. Wie rechtfertigt die Kommission die Wahl einer Rechtsgrundlage, die im Widerspruch zu der bisherigen Praxis und zu der ständigen Rechtsprechung des EuGH steht?
2. Warum hat die Kommission nicht Artikel 352 AEUV als Rechtsgrundlage herangezogen?
3. Welche Rechtsgutachten hat die Kommission für ihr Vorgehen beantragt?
[1] Richtlinie 2009/119/EG vom 14. September 2009 zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Mindestvorräte an Erdöl und/oder Erdölerzeugnissen zu halten.
[2] Urteil des EuGH vom 27. November 2012, Rechtssache C-370/12, Rn. 116.
Antwort von Herrn Gentiloni im Namen der Europäischen Kommission
29.6.2020
Die Kommission hat bei ihrem Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Einrichtung von SURE anhand sachbezogener Kriterien sorgfältig geprüft, was die geeignete Rechtsgrundlage wäre. SURE ist das Instrument, mit dem die Union die Mitgliedstaaten bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in der gegenwärtigen Krise unterstützt.
Die Kommission ist der Auffassung, dass die Darlehenskomponente von SURE, mit der die Union den Mitgliedstaaten vorübergehend finanziellen Beistand zur Abfederung der schwerwiegenden ökonomischen Folgen der COVID-19-Pandemie bereitstellt, korrekt auf Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) gestützt werden kann, dessen Voraussetzungen vollständig erfüllt sind[1].
Bei der Haushaltskomponente von SURE werden die Darlehen für den finanziellen Beistand der Union strukturell durch freiwillige Garantien der Mitgliedstaaten an die Union abgesichert, und mit dieser Struktur ist sie korrekt auf Artikel 122 Absatz 1 AEUV zu stützen. Diese Komponente spiegelt die Solidarität wider, mit der die Mitgliedstaaten auf die beispiellose Wirtschaftslage infolge des Ausbruchs von COVID-19 reagieren und angemessene Maßnahmen treffen.
Da keine der beiden genannten Komponenten von SURE gegenüber der anderen als sekundär zu betrachten ist, ist es rechtlich fundiert, den Vorschlag auf die beiden Absätze in Artikel 122 AEUV zu stützen.
Daher ist die Kommission der Auffassung, dass die Rechtsgrundlage für SURE dem Pringle-Urteil nicht zuwiderläuft.
Es sei auch angemerkt, dass SURE die Anstrengungen der Mitgliedstaaten zur Deckung der plötzlich gewaltig steigenden öffentlichen Ausgaben für die Unterstützung ihrer Arbeitnehmer infolge der COVID-19-Pandemie eine gewisse Zeit lang begleiten soll, nicht aber für schwerwiegende mitgliedstaatliche Finanzierungsprobleme eingesetzt werden darf. Ein solcher Mechanismus entspricht dem Zweck von Artikel 122 Absatz 2 AEUV.
Tatsächlich ist Artikel 122 Absatz 1 AEUV nicht nur auf den Energiebereich anwendbar. Diese Nennung stellt nur ein Beispiel im Sinne dieser Bestimmung dar.
[1] https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:12008E122:DE:HTML