Zum Begriff „europäische Souveränität“

Mai 25, 2020 | Parlamentarische Anfragen

In einer auffallend schnellen Antwort auf den Brief eines grünen MdEP hat die Präsidentin der Kommission mitgeteilt, sie prüfe ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, dessen Staatsangehörige sie ist.

In dieser Antwort spricht Frau von der Leyen von „europäischer Souveränität“.

2009 hatte das deutsche Verfassungsgericht in einem Urteil über den Vertrag von Lissabon deutlich beteuert, dass „keine eigenständige Volkssouveränität der Gesamtheit der Unionsbürger […] aus den Zuständigkeiten der Europäischen Union erwächst“ (Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08, Randnummer 281).

Aus den EU-Verträgen ergibt sich keine Staatlichkeit der Union und erst recht keine Souveränität.

Daher stellen wir die folgenden Fragen:

1. Auf welche rechtliche Grundlage stützt sich der von Frau von der Leyen verwendete Begriff einer „europäischen Souveränität“?

2. Bestreitet die Präsidentin der Europäischen Kommission, dass die Europäische Union „eine Vertragsunion souveräner Staaten“ ist und dass die Mitgliedstaaten infolgedessen „die Herren der Verträge“ bleiben?

Unterstützer[1]

[1] Diese Anfrage wird von einem Mitglied unterstützt, das nicht mit den Verfassern bzw. Verfasserinnen identisch ist: Jean-Paul Garraud (ID)

Antwort von Präsidentin von der Leyen im Namen der Europäischen Kommission

11.8.2020

Der Ausdruck „europäische Souveränität“ in besagtem Schreiben bezog sich auf die Autonomie der Union und ihrer Rechtsordnung.

Wie der Gerichtshof der Europäischen Union wiederholt festgestellt hat, haben die Gründungsverträge im Unterschied zu gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen eine neue Rechtsordnung mit eigenen Organen geschaffen, zu deren Gunsten die Mitgliedstaaten ihre Hoheitsrechte eingeschränkt haben.

Das Unionsrecht ist daher dadurch gekennzeichnet, dass es aus einer eigenständigen Rechtsquelle — den Verträgen — hervorgeht, dass es Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat und dass eine ganze Reihe von Bestimmungen, die für ihre Staatsangehörigen und für die Mitgliedstaaten selbst gelten, unmittelbare Wirkung haben.

Die Autonomie des Unionsrechts gegenüber sowohl dem Recht der Mitgliedstaaten als auch dem Völkerrecht ist durch die wesentlichen Merkmale der Union und ihres Rechts gerechtfertigt, die die Verfassungsstruktur der Union sowie das Wesen dieses Rechts selbst betreffen.

Die Verträge wurden von den Mitgliedstaaten gemeinsam geschaffen und können nur nach den Verfahren des Artikels 48 des Vertrags über die Europäische Union geändert werden, die Einstimmigkeit und Ratifizierung (bzw. Zustimmung im vereinfachten Änderungsverfahren) durch alle Mitgliedstaaten erfordern. In diesem Sinne bleiben die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“. Sie können jedoch Inhalt oder Auslegung des Unionsrechts weder einseitig noch außerhalb der in den Verträgen vorgesehenen Verfahren bestimmen.